Interview zur Biodiversitätsinitiative
Am 22. September stimmen wir über die Biodiversitätsinitiative ab. Die Grünen Ins unterstützen die von verschiedenen Umweltverbänden lancierte Initiative. Regula Wernli ist Mitglied der Ortspartei und befasst sich seit Jahren mit dem Thema. Im Interview beantwortet sie unsere Fragen und ordnet die Bedeutung der Biodiversität für unser Leben ein.
Grüne Ins: Regula, du bist Landwirtin. Stimmst du der Biodiversitätsinitiative zu?
Regula Wernli: Ja, ich stimme zu. Sie hilft, löst aber nicht alle Probleme.
Was meinst du damit?
Ein Gesetz allein reicht nicht aus. Es gibt mehr Ressourcen für den Naturschutz, aber letztlich müssen wir alle uns für die Biodiversität einsetzen. Im Kanton Bern kümmern sich nur drei Angestellte um 254 Schutzgebiete. Rund um den Bielersee gibt es Schutzgebiete, aber Menschen, die dort baden, standup-paddeln oder Fahrrad fahren, beachten sie oft nicht. Es fehlt an Kommunikation. So können die letzten Vogelpaare einer Art gestört werden und aussterben, obwohl es Schutzgebiete gibt.
Viele Insekten- und Vogelarten sind bereits ausgestorben. Was denkst du darüber?
Das macht mich sehr traurig. Wie jeder Mensch eine Aufgabe in der Gesellschaft hat, hat jedes Insekt und jede Blume eine Rolle in der Natur. Alle sind wichtig.
Du bist Bio-Landwirtin. Sind Landwirte schuld am Insektensterben?
Man sollte das differenziert betrachten. Es geht nicht um Schuld. Wir sind alle Teil
eines Systems, das lange Zeit funktioniert hat, aber so nicht weitergehen kann. Zuerst sollten wir den Landwirten für ihre Arbeit danken. 98% von allem, was wir zum Leben brauchen, inklusive Kleidung, wächst auf einem Acker. Jemand hat diesen Acker für uns bearbeitet. Ackerland ist sehr wertvoll und sollte vor Überbauung geschützt werden.
Tragen Insektizide nicht vor allem zum Insektensterben bei?
Insektizide zielen auf Schadinsekten, treffen aber auch andere Insekten, die einfach da sind ohne Schaden anzurichten. Es entwickeln sich schnell Resistenzen, ähnlich wie bei Antibiotika. Die Natur ist komplexer, als man denkt. Schadinsekten gedeihen in Kulturen, nützliche Insekten hingegen brauchen Lebensraum und Nahrung neben dem Acker. Ich bewundere Landwirte, die durch die Gesundheit ihrer Pflanzen und Böden auf Insektizide verzichten können.
Viele Menschen mögen Insekten nicht besonders. Können wir nicht auf Mücken verzichten?
Insekten sind Teil des Nahrungsnetzes und erfüllen viele Funktionen. Wir leben in einer Co-Evolution, bei der sich alles gleichzeitig weiterentwickelt. Biodiversität
betrifft nicht nur Insekten, sondern auch Bodenlebewesen, Wiesen und unser Mikrobiom im Darm.
Die Biodiversitätsinitiative soll 30% der Landesfläche schützen. Stimmt das?
Nein, die 30% sind ein internationales Ziel im Rahmen des Globalen Biodiversitätsrahmens von 2022 und haben mit der Initiative nichts zu tun. Es ist
wichtig, dass Lebensraum für die Natur zur Verfügung steht. Viel Fläche in der
Schweiz ist eine grüne Wüste. Früher haben Bauern und Weidetiere Wiesen geschaffen, die eine enorme Vielfalt ermöglichten. Es ist schade, dass viele Wiesen nur noch sehr wenige Pflanzenarten enthalten.
Wenn weniger Fläche intensiv bewirtschaftet wird, sinkt unser Selbstversorgungsgrad. Ist die Ernährung der Bevölkerung nicht wichtiger?
Die Ernährung ist wichtig. Der Selbstversorgungsgrad der Schweiz wurde oft genutzt, um die 3,5% Biodiversitätsförderfläche zu kippen. Man sollte aber auch darüber sprechen, was auf dem Ackerland angebaut wird. Über 40% dienen der Tierfutterproduktion. Jährlich entspricht der Foodwaste einer Lastwagenkolonne von Zürich bis Madrid, etwa 150‘000 Lastwagen. Das Potenzial wäre also riesig, da hätten auch 3,5% Platz. Ich verstehe nicht, wie die gleichen Menschen, die gegen die 3,5% waren, kein Problem damit haben, dass zig Hektaren Kulturland und Wald für den Autobahnausbau geopfert werden.
Was brauchen die Tiere und Insekten?
Wir sollten unsere Art der Ordnung überdenken. Wenn wir jährlich den Waldrand und Krautsaum mit einem Rotationsmulchgerät schneiden, töten wir 40-100% der Tiere. Würden wir alle drei Jahre nur ein Drittel der Länge schneiden, hätten Tiere eine Überlebenschance und die Insektenbiomasse würde zunehmen. Es ist übrigens nicht mit Mehrkosten verbunden, das wurde getestet. Schmetterlinge legen ihre Eier am äußeren Rand von Hecken ab, welcher oft abgeschnitten wird. Mehr konkurrenzarme Begleit- und Wildkräuter auf dem Acker, Untersaaten und Mischkulturen würden den Lebensraum verbessern. Kleinere Felder, mehr Bäume und Strukturen wären gut und würden gleichzeitig dem Klimawandel begegnen. Es müssen neue Praktiken mit Landwirt:innen, Wissenschaft und Naturschutz zusammen entwickelt werden.
Auch in Siedlungsgebieten gibt es Potenzial: Blumenwiesen und einheimische
Sträucher statt Kirschlorbeer und Rasen könnten etwas bewirken.
Fakten
«Die Schweiz ist reich an unterschiedlichen Lebensräumen: Gezählt werden über 230 verschiedene Lebensraumtypen (wie Flaumeichenwald, inneralpine Felsensteppe etc.). Von 167 beurteilten Lebensräumen ist fast die Hälfte gefährdet. In den meisten Lebensräumen nimmt die ökologische Qualität weiter ab. Dies gilt auch für die geschützten Biotope von nationaler Bedeutung.» (Zitat www.bafu.admin.ch)
Global ist nicht nur das Verschwinden von Arten alarmierend, sondern auch der Einbruch ganzer Populationen: Heute leben zwei Drittel weniger wilde Wirbeltiere auf der Erde als 1970. Und wenn man alle Säugetiere der Welt – inklusive Menschen – wägen würde, würden Wildtiere nur vier Prozent des Gewichts ausmachen.